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«Die Entwicklungszusammenarbeit trägt dazu bei, Migration als letzte Option erscheinen zu lassen.»

Eduard Gnesa war zwischen 2002 und 2009 Direktor des Bundesamtes für Migration und von 2009 bis 2017 Botschafter für internationale Migration und Entwicklung beim EDA. Im Interview spricht er mit Unité über die Herausforderungen der globalen Migration und mögliche Ansätze der Entwicklungszusammenarbeit, um diese zu bewältigen.

Sara Ryser
Junge auf Fahhrrad, Menschen in Zelten im Flüchtlingslager in Idlib, Syrien. Foto: Ahmed Akacha

Wie hat sich die Migration seit Ihrer Zeit als Direktor des Bundesamtes für Migration und als Botschafter für internationale Migration und Entwicklung verändert?

Eduard Gnesa: Die Migration hat sich seither weltweit und auch in der Schweiz erheblich verändert. 2002 wurde der freie Personenverkehr mit der EU eingeführt, was positive Auswirkungen auf Einzelpersonen, Wirtschaft und Wohlstand des Landes hatte. In Bezug auf Flüchtlingspolitik hat sich ebenfalls viel gewandelt: Früher kamen Flüchtlinge aus bestimmten Regionen: 1956 aus Ungarn, später aus Vietnam und in den 1990er Jahren aus Ex-Jugoslawien. Heute haben wir gleichzeitig Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Afrika, Asien und der Ukraine. Die Asylpolitik hat sich verbessert, mit raschen und fairen Verfahren, verstärkter Integration und Rückführungen mit Reintegrationsprojekten. Als Land mitten in Europa sind wir richtigerweise auch stärker in die europäische Asyl- und Migrationspolitik eingebunden.

Irreguläre Migration, legale Migration, Flucht ... In der öffentlichen Debatte werden diese Begriffe oft nicht klar voneinander abgegrenzt. Können Sie diese Begriffe kurz definieren?

Irreguläre Migration bezieht sich auf Menschen, die ohne die notwendigen rechtlichen Dokumente in ein Land einreisen oder sich dort aufhalten. Bei der legalen Migration handelt es sich um Personen, welche die erforderlichen Visa und Aufenthaltsbewilligungen besitzen, um in ein anderes Land zu ziehen. Von Flucht spricht man, wenn Menschen aufgrund von Konflikten, Verfolgung, wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit oder Umweltkatastrophen ihr Herkunftsland verlassen müssen und internationalen Schutz suchen. Pro Jahr migrieren etwa 260 Millionen Menschen legal in einen anderen Staat, um dort zu leben und zu arbeiten. Flüchtlinge gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention sind zur Zeit circa 40 Millionen Menschen pro Jahr. Dazu kommen circa 60 Millionen Binnenflüchtlinge, also Personen, welche im eigenen Land an einen anderen Ort flüchten.

Foto Eduard Gnesa
Eduard Gnesa war zwischen 2002 und 2009 Direktor des Bundesamtes für Migration und von 2009 bis 2017 Botschafter für internationale Migration und Entwicklung beim EDA. Seit seiner Pensionierung lehrt der renommierte Experte in nationaler und internationaler Migrationspolitik an der Universität St. Gallen und engagiert sich in verschiedenen internationalen Expertengremien, darunter Advisory Board ICMPD in Wien und Global Migration Group in Berlin. Zudem berät er Bundesbehörden, Unternehmen und Stiftungen zu Migrationsthemen. Er ist Partner von Migration Experts Group.

Was sind die Hauptursachen für Migration?

Menschen migrieren aus verschiedenen Gründen. Direkte Ursachen für Flucht und irreguläre Migration sind Konflikte, Verfolgung, Regierungsversagen sowie wirtschaftliche und soziale Perspektivlosigkeit. Dazu kommen indirekte Ursachen wie der demografische Druck (vor allem in Afrika) oder Umweltzerstörung und Klimawandel. Auch globale Ereignisse wie zum Beispiel die aktuelle Nahrungsmittelkrise in 82 Ländern oder die Folgen der Covid-19-Pandemie können zur Migration veranlassen. Legale Migration hingegen geschieht oft freiwillig, wenn Personen lieber in einem anderen Land leben und arbeiten wollen.

Was sind die grössten Herausforderungen im Zusammenhang mit Migration?

Die grössten Herausforderungen gibt es im Zusammenhang mit irregulärer Migration, insbesondere für schutzbedürftige Migrant:innen selbst. Ob und wohin die Menschen migrieren und welchen Weg sie wählen wird massgeblich durch das Schlepperwesen sowie durch mangelnde Schutz-, Integrations- und Reintegrationssysteme beeinflusst. Die Fluchtwege sind oft gefährlich – allein in diesem Jahr sind schon mehr als 2500 Personen bei der Überfahrt nach Europa im Mittelmeer ertrunken. In den Transitländern fehlt es an angemessenen Unterbringungsmöglichkeiten und der Schutz der Menschenrechte ist nicht gewährleistet. Ein weiteres Problem: Die Herkunftsländer verlieren teilweise gutqualifizierte Erwerbstätige.

Auf welche Weise kann die Entwicklungszusammenarbeit Herausforderungen im Zusammenhang mit Migration mindern?

Internationale Zusammenarbeit und Entwicklungszusammenarbeit (EZA) können Migrationsherausforderungen mindern, indem sie dazu beitragen, in den Herkunftsländern die Bildung und Grundversorgung zu verbessern und Arbeitsplätze zu schaffen. Erfolgreiche Programme konzentrieren sich auf langfristige Entwicklung wie Infrastrukturprojekte und Ausbildungsinitiativen, die die Lebensbedingungen vor Ort verbessern und Migration als letzte Option erscheinen lassen. Massnahmen zur Konfliktprävention sowie Unterstützung von Demokratie und Menschenrechten sind ebenfalls entscheidend, um Fluchtursachen zu mindern. Zudem leistet die EZA oft einen Beitrag zum Protection in the Region-Ansatz. Damit soll sichergestellt werden, dass Flüchtlinge und Migrant:innen in ihrer unmittelbaren Umgebung – also in ihren Herkunftsländern oder dort, wo sie Zuflucht suchen – Schutz finden und somit nicht gezwungen sind, lange und gefährliche Reisen anzutreten.

Können Sie Beispiele für erfolgreiche Programme oder Strategien nennen?

Was oft gut funktioniert, sind Migrationsprogramme, die Bildung und Beschäftigung in den Herkunftsländern fördern sowie Schutzmassnahmen und Integrationsprogramme für Flüchtlinge in Nachbarländern. Die meisten Flüchtlinge bleiben in den umliegenden Ländern. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, diese Menschen dort auszubilden und auf die Weiterreise nach Europa und die Integration dort oder auf die Rückkehr ins Heimatland vorzubereiten. Zentral für den Erfolg ist in beiden Fällen eine solide Ausbildung, die auch den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts entspricht.

Was bräuchte es, damit die Entwicklungszusammenarbeit noch effektiver zur Meisterung der Herausforderungen beitragen könnte?

Es müssen vor allem die richtigen Rahmenbedingungen gefördert werden. Dazu gehören eine verbesserte Koordination zwischen den verschiedenen nationalen und internationalen Akteuren sowie eine verstärkte Unterstützung für Schutz- und Integrationsprogramme in Herkunfts- und Transitländern. Aber am wichtigsten sind natürlich das langfristige Engagement und eine ausreichende Finanzierung der EZA. Nur so können Flucht- und Migrationsursachen wie Armut, Konflikte und Umweltveränderungen effektiv angegangen und nachhaltige Lösungen entwickelt werden.

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