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Gestärkte Selbstachtung und durchbrochene Stereotypen

Das Bildungssystem in Äthiopien wird den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen nicht gerecht, weder auf Schulstufe noch in der Berufsbildung. Das Misrach Center leistet als Ausbildungszentrum für Menschen mit körperlicher Behinderung einen wichtigen Beitrag zu deren beruflicher Selbständigkeit und Integration in die Gesellschaft.

Sara Ryser
Hier ist Präzisionsarbeit gefragt: In der Linsenschleiferei entstehen qualitativ hochwertige Brillengläser, die auf dem Markt sehr gefragt sind. Die Mitarbeitenden in dieser Abteilung sind taubstumm oder haben eine Gehbehinderung.

Unicef geht davon aus, dass in Äthiopien etwa 7,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung leben, anderen Schätzungen zufolge sind es fast doppelt so viele. Als gesichert gilt, dass 95 Prozent von ihnen in Armut leben. Dies erstaunt nicht, der Zusammenhang zwischen Armut und Behinderung ist seit langem erwiesen: Armut begünstigt Behinderungen und eine Behinderung führt zu Armut. Obwohl auch in Äthiopien das mit einer Behinderung verbundene Stigma kleiner geworden ist, gibt es weiterhin viele Diskriminierungen, insbesondere im Arbeitsmarkt. Das Vorurteil, dass Menschen mit Behinderungen nicht arbeiten können oder sollten, ist noch immer weit verbreitet. Zudem sind Gebäude, Strassen und Verkehrsmittel oft nicht zugänglich.Menschen mit Behinderungen sind stärker gefährdet, ausgenutzt zu werden und wenn sie als Strassenverkäufer:innen arbeiten, werden sie häufig von der Polizei drangsaliert. Aus all diesen Gründen ist es für Menschen mit einer Behinderung noch schwieriger als für alle anderen, in Äthiopien eine Arbeit zu finden.

Fit für den Arbeitsmarkt werden

Genau da setzt die Arbeit der Mission am Nil im Misrach Center in Addis Abeba an, dessen Motto lautet: «Wir wollen Menschen mit Behinderung unterstützen, die aus verschiedenen Gründen nicht in das formale Bildungssystem einsteigen können.» Hier werden junge Frauen und Männer mit einer körperlichen Behinderung zu Handwerker:innen ausgebildet. Das Zentrum hat hohe Ansprüche an sich selbst: Es will mit gutem Beispiel vorangehen, indem es eine bessere Ausbildung bietet als andere, damit die Auszubildenden gut für den Arbeitsmarkt vorbereitet sind und nach dem Lehrabschluss trotz ihres Handicaps eine Stelle finden.

Das Bildungsangebot reicht von Nähen über die Herstellung von Holzspielzeug, Kunstkarten oder Bürsten bis zu einer Schreinerei und einem Optikbetrieb mit eigener Linsenschleiferei. Junge gehbehinderte, gehörlose oder blinde Menschen erhalten dadurch die Chance auf berufliche Integration, welche der Arbeitsmarkt nicht leisten kann. Pro Jahr schliessen etwa 35 junge Frauen und Männer ihre zweijährige Ausbildung ab. Ein grosser Teil der Absolvent:innen des Misrach Centers findet danach eine Anstellung im regulären Arbeitsmarkt. Sie erlangen damit nicht nur ein gesichertes, regelmässiges Einkommen, mit dem manche sogar weitere Familienangehörige unterstützen können, sondern stärken ebenfalls ihre Selbstachtung und Eigenständigkeit.

Wichtige Pionierleistungen

Neben dem Berufsausbildungszentrum verfügt das Misrach Center auch über ein Blindenzentrum. Dieses besteht aus einer Braille-Schule, einer Wohngruppe für blinde junge Frauen und einem Unterstützungsprogramm für Jugendliche und junge Erwachsene, die eine öffentliche Schule oder Universität besuchen. An der Braille-Schule lernen blinde Kinder sowie einige Erwachsene das Lesen und Schreiben der Blindenschrift. Diese Fähigkeit ermöglicht vielen von ihnen den Übergang in die regulären Schulen, wo sie in der Primar-, Sekundar- und Tertiärstufe erfolgreich Anschluss finden. Hier leistete das Blindenzentrum des Misrach Centers in den 1990-er Jahren eine wichtige Pionierarbeit: Ato Amare, der Gründer des Ausbildungszentrums, entwickelte zusammen mit der Einsatzleistenden Hanna Binz die äthiopische Version der Braille-Schrift. Nur dank dieser Errungenschaft können Blinde in Äthiopien die Blindenschrift erlernen. Der 36-jährige Yonathan Wolde ist froh, dass er nach seiner Erblindung diese Möglichkeit hatte: «Das öffnete mir den Weg zur Lehrerausbildung. Seit Dezember 2021 arbeite ich als Lehrer an einer staatlichen Schule. So stehe ich auf eigenen Füssen, kann mir dank meines guten Einkommens eine kleine Wohnung leisten und sogar – wie vor der Erblindung – meine Familie finanziell unterstützen. In Zukunft möchte ich mich weiterbilden und neben der Arbeit in Abendkursen Jura studieren.»

Vor allem auch dank der langjährigen Fachpersoneneinsätze wird das Misrach Center seinem Motto mehr als gerecht. Die hier Ausgebildeten bestätigen, dass das Zentrum gut auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit einer Behinderung ausgerichtet ist und betonen als besondere Stärke den erfahrenen, gelassenen und liebevollen Umgang der Mitarbeitenden mit den Lernenden. Markus Fischer, der Leiter der Mission am Nil, freut sich über das Erreichte: «Zu den grössten Erfolgen des Misrach Centers gehört die Entwicklung der äthiopischen Version der Braille-Schrift, die Übersetzung des ersten Holzkundefachbuchs ins Amharische und dass Blinde, die mit Unterstützung des Ausbildungszentrums einen Universitätsabschluss erlangen konnten, heute als Lehrer:in, Sozialarbeiter:in oder Jurist:in arbeiten und ein selbständiges Leben führen.»

Das Misrach Center erfüllt eine wichtige Rolle bei der Integration der Menschen mit Behinderungen in die äthiopische Gesellschaft und Wirtschaft. Dank dem Ausbildungszentrum hat die Qualität der Ausbildung von Menschen mit Behinderungen in Addis Abeba zugenommen und entspricht den Bedürfnissen der Auszubildenden sowie der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Auch deswegen gilt das Misrach Center als Vorbild für andere Ausbildungsinstitutionen in Äthiopien. Am Misrach Center Ausgebildete haben bewiesen, dass sie in privatwirtschaftlich geführten Unternehmen geschätzte Mitarbeitende werden und sogar eigene Unternehmen gründen und leiten können. Ihre selbst erarbeitete ökonomische Selbständigkeit stärkt die Selbstachtung, während in der Gesellschaft vorhandene Stereotypen durchbrochen und Diskriminierungen abgebaut werden.

Das Programm der Mission am Nil in Äthiopien wird von der DEZA (EDA) mitfinanziert, im Rahmen des institutionellen Programms von Unité.

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